Dienstag, 14. Mai 2019

Besser und zufriedener arbeiten durch Entschleunigung

Ich bin seit ein paar Jahren begeisterte Läuferin und bin mittlerweile sogar auf den Geschmack des schnellen Laufens gekommen! In letzter Zeit aber ist meine Lust, so schnell zu laufen, wie ich kann, etwas abgeflaut. Ich leugne zwar nicht, dass es mich immer noch mit immensem Stolz erfüllt, wenn ich eine neue persönliche Bestzeit erziele, doch ich habe mein Lauftempo nun verringert.

Das langsamere Laufen hat viele Vorzüge: Ich schalte nicht nur das Risiko aus, dass ich eventuell am Ende vor lauter Erschöpfung zusammenbreche, sondern ich kann auch die Betätigung an sich viel bewusster genießen. Ich nehme mehr wahr von den kleinen Dingen in der Natur um mich herum. Und es hat den angenehmen Effekt, dass Laufen dadurch jetzt (fast!) entspannend geworden ist.

Pomphrey Hill Parkrun, Mangotsfield, Bristol (Bild mit freundlicher Genehmigung von Heli-air Imaging)

Mir ist aufgefallen, dass es eine auffallende Parallele zwischen dem Laufen und meinem Übersetzerjob gibt. Wer zu schnell arbeitet, läuft Gefahr, Bedeutungsnuancen nicht zu bemerken, kleine Details im Text zu übersehen oder in der Nähe von Fehlern, die man erkannt hat, noch weitere Fehler nicht zu erkennen. Schalten wir daher bei Tätigkeiten im Beruf einen Gang runter (soweit angemessen), hat dies auch klare Vorzüge.

Bei Übersetzungsprojekten arbeiten wir uns ja manchmal sehr schnell durch Texte durch, entweder weil wir unter Zeitdruck sind oder weil die korrekturzulesende Übersetzung von jemand Anderem sowieso hervorragend ist und kaum Änderungen erfordert oder weil wir einen unserer eigenen Texte ohnehin schon oft genug durchgegangen sind. Manchmal wollen wir die Aufgabe doch einfach nur schnell hinter uns bringen und abhaken können, oder?

Wenn ich den ersten Entwurf einer Übersetzung anfertige, arbeite ich meist recht schnell. Klar, auch für eine Rohübersetzung, für die ich den Text im Deutschen neu formuliere, ist Kreativität vonnöten; jedoch ist der Prozess gewissermaßen auch „mechanisch“. Denn für meinen ersten Entwurf mache ich ausgiebigen Gebrauch von Internetressourcen, Translation-Memory-Segmenten aus früheren Projekten, die schon in meinem CAT-Tool gespeichert sind, und auch von maschineller Übersetzung.

Aber bei darauffolgenden Entwürfen gehe ich langsamer vor, vor allem bei der Abschlussfassung des Textes! Die Abschlussfassung erstelle ich meist in einem störungsfreien Umfeld, wenn ich ganz allein daheim bin. Gewöhnlich bin ich morgens in der richtigen Verfassung dafür, wenn ich mich gedanklich noch frisch fühle. Zu der Zeit kann ich auch am besten die kleinen Dinge darin wahrnehmen und verstehen.

Vielleicht ist es einfach die Konsequenz dessen, wenn man etwas gewohnheitsmäßig tagein, tagaus tut? Ich habe den Eindruck, dass uns Übersetzern und Übersetzerinnen mit der Zeit das Bewusstsein für die Schönheit von Sprache ein wenig abhandenkommt. Denn findet sich Schönheit nicht sogar in den Wörtern des technischsten oder trockensten Textes? Immerhin sind es ja Wörter: diese kleinen, schönen Komponenten von Sprache, aus denen, wenn sie zu einer Übersetzung zusammengesetzt werden, etwas Eindrucksvolles entsteht.

Durch Verringern meines Lauftempos ist mir bewusst geworden, dass auch langsameres Arbeiten im Beruf viele Vorzüge hat: eine noch größere Aufmerksamkeit für Details, eine geringere Wahrscheinlichkeit, Fehler zu übersehen, und mehr Sinn für die Wörter und den Text. Durch Entschleunigung arbeite ich jetzt besser und zufriedener.

(Der obige Text ist eine Übersetzung meines ursprünglich auf Englisch verfassten Blog-Artikels „Better and happier at work by slowing down“ vom 20. Februar 2018.)